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Schilf – kleiner Halm mit großer Wirkung

Stand: März 2023
Foto, Nahaufnahme von mehreren Schilfpflanzen.

Der nachwachsende Rohstoff wird seit Jahrtausenden zur Dachdeckung, als Dämmung, als Putzträger oder als Zuschlag genutzt. Derzeit erlebt Schilf eine Renaissance.

Herkunft und Historie

Schilfrohr (Phragmites australis) oder auch Reet zählt zu den Süßgräsern. Es kommt auf allen Kontinenten vor, hauptsächlich an den Rändern von Teichen, Seen und Sumpfgebieten. Im Frühling kann man den biegsamen, 1 cm starken Halmen fast beim Wachsen zusehen: Unter günstigen Bedingungen sprießen sie um bis zu 5 cm täglich. Schilfrohr ist ein CO2-Speicher, feuchteresistent, stabil, wärmeisolierend und brandhemmend. Weltweit wird mit diesem natürlichen Material gebaut.

Mit den Reetdächern hat Schilfrohr besonders in den nördlichen Gebieten sowie an Küsten Deutschlands eine lange Historie. Doch sind die hiesigen Bestände an Schilfrohr wegen trockengelegter Moore so gering, dass er importiert werden muss. Ein schwarzer Fleck auf der Ökobilanz.

Frisch geerntete Schilfhalme
Reetgedeckte Häuser an der schleswig-holsteinischen Küste

Merkmale von Schilf

Multitalent: Dämmplatte, Putzträger, Zuschlagstoff

Schilfrohr ist vielfach einsetzbar, als Wärme- und Trittschalldämmung, Verkleidung von Trockenbaukonstruktionen, Untergrund für Wandheizungen oder als Putzträger. Der schnellwachsende Biostoff bindet CO2 und hat ein niedriges Raumgewicht von 190 kg/m3. Der hohe Luftgehalt in den Schilfrohen reguliert das Wohnklima, im Sommer bleibt es innen angenehm kühl. 

Um Leichtbau- und Dämmplatten herzustellen, werden Schilfrohre mit beidseitig angelegtem, verzinktem Draht gebunden. Je nach Größe und Stärke wiegen die Elemente etwa zwischen 2 kg und 4,5 kg pro m2. Die Platten lassen sich einfach auf Holz befestigen, z. B. mit Holzbauschrauben und Tellern. Auf massivem Mauerwerk werden sie mit Lehm verklebt und mit Dübeln befestigt. Für Wärmedämm-Verbundsysteme werden die Schilfplatten direkt auf die Fassade gedübelt und anschließend verputzt.

Bei Altbauten kommen auch einlagige Putzträgermatten zum Einsatz, vor allem an Holzbalkendecken und Dachschrägen. Gehäckseltes Schilfohr wird Lehmputzen zugeschlagen, weil es im Gegensatz zu Roggenstroh nicht schimmelt. Durch unterschiedliche Faser- und Stückgrößen wird eine gute Stützwirkung des Lehmputzes erreicht.

Obwohl Schilfrohr sich sehr gut als biologischer Baumaterial eignet, muss der Einsatz beispielsweise als Dämmplatte im Einzelfall genehmigt werden.

Reetplatten werden auschließlich durch mechanischer Pressung, d.h. ohne chemische Bindung hergestellt. Die Schilfrohrhalme werden lediglich fest zusammengedrückt und mit einem verzinktem Metalldraht gebunden.
Die Luft enthaltenden Hohlräume sowie die Luftschichten zwischen den einzelnen Halmen sorgen für gute Wärmedämm- und Schallschutzeigenschaften von Reetplatten.

Reetdach in Deutschland – traditionell ökologisch

Die Historie der Reetdächer reicht zurück bis zu 4.000 Jahren v. Chr. Seit 2014 ist das Handwerk der Reetdachdeckerei sogar als immaterielles Weltkulturerbe eingetragen. Reetgedeckte Häuser bestechen durch ihren besonderen Charme, viele stehen unter Denkmalschutz. Schilf ist ein schadstofffreies Naturprodukt und somit eine ökologische Alternative zu herkömmlichen Dach- und Dämmmaterialien.

Die Kosten für die Eindeckung eines Dachs mit Reet sind aktuell noch vergleichsweise hoch und betragen je nach Hersteller das Zwei- bis Dreifache eines Ziegeldachs. Der Aufbau erfordert viel Handarbeit und dauert bis zu fünf Mal länger. Dafür trotzt ein Reetdach Wind und Wetter. Die sogenannte Standzeit beträgt 30 bis 50 Jahre. Es soll sogar Reetdächer geben, die 100 Jahre gehalten haben. Dabei spielen Faktoren wie Dachneigung, Lüftungsgewohnheiten oder regionale Lage eine Rolle. Reetdächer lieben es trocken, sie müssen regelmäßig gepflegt und repariert werden. Um den Schimmel in den Griff zu bekommen, werden Reetdächer heute meist als Kaltdach mit Hinterlüftung gebaut. Die Feuchtigkeit, die sich durch unter dem Dach befindliche Zimmern bilden kann, wird somit abgeführt.

Schon die Ernte der Schilfhalme ist mit viel Handarbeit verbunden.
Foto, ein Handwerker befestigt Schilfrohr (Reet) auf einem Dach.
Auch die Verarbeitung auf der Baustelle erfordert viel manuelle Arbeit und handwerkliches Geschick.

Import von Schilfrohr

Typisch norddeutsch und trotzdem ein Reetdach aus China, Rumänien oder der Türkei? Ja, denn Schilfrohr ist in Deutschland aktuell Mangelware. Nur etwa 10 – 20 Prozent stammen aus heimischer Produktion, weil Schilfrohr aktuell noch nicht industriell und in großen Mengen angebaut wird. Auch die natürlichen Vorkommen sind begrenzt. Grund dafür sind massive Eingriffe in die Landschaft: Deichbau, Begradigung von Flüssen und Trockenlegung von Sümpfen und Mooren, vor allem für die landwirtschaftliche Nutzung von Flächen. Von den intakten Reetflächen am Darß, auf Usedom, Rügen und Fehmarn oder in der Weserregion darf nur nach strengen Naturschutzregeln geerntet werden. Weil die Nachfrage groß ist, wird Schilfrohr aus Süd- und Osteuropa, der Türkei und mittlerweile sogar aus China importiert. Laut dem Greifswald Moor Centrum könnten pro Hektar Schilf etwa zwischen 300 – 1.000 Bunde Schilf geerntet werden. Pro Bund Schilf sind Preise zwischen 1,90 und 2,50 EUR möglich, je nach Herkunft und Qualität. Um den Bedarf regional zu decken, sind etwa 10.000 ha Schilffläche erforderlich.

Foto, Luftaufnahme eines Moores.
Artikel aus dem Newsletter

Paludikulturen: Klimaschutz mit nachhaltigen Baustoffen

Trockengelegte Moorlandschaften wiederbeleben und nachwachsende Rohstoffe als Baustoffe nutzen – das ist gelebter Klimaschutz. Beides lässt sich mit Paludikulturen verwirklichen.

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Kultivierung steht noch am Anfang

Seit Jahrhunderten wird Schilf geerntet und hat mit seinen vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten großes Potenzial für den Baubereich. Während Schilfrohr früher einfach geschnitten und geerntet wurde (genannt: Rohrwerbung), sind heute moderne Motorbalkenmäher nötig. Mitunter werden sogar Amphibienfahrzeuge eingesetzt, um den empfindlichen Untergrund der Biotope zu schonen.

Laut Greifswald Moor Centrum hat sich aufgrund aktueller Rahmenbedingungen eine landwirtschaftliche Kultivierung von Schilfrohr in größerem Rahmen noch nicht etablieren können. Erfolgreich sind allerdings unterschiedliche Pilotvorhaben, die Anbau und Ernte in größerem Umfang untersuchen und vorantreiben möchten. Durch den regionalen Anbau von Schilfrohr wäre es möglich, die lokale Verfügbarkeit von Baustoffen sicherzustellen und die dadurch entstehenden kurzen Transportwege würden sich positiv auf die Ökobilanz auswirken.

Moore renaturieren mit Paludikulturen

Intakte Moore binden Treibhausgase und sind natürliche Biotope von Schilfrohr sowie Rohrkolben, Moos, Nassgräsern etc. Die land- und forstwirtschaftliche Nutzung dieser Flächen heißt Paludikultur. In Deutschland sind jedoch 95 Prozent dieser Areale trockengelegt worden. Sie werden zur Torfgewinnung oder anderweitig für die Landwirtschaft genutzt. Wenn die Ziele des Pariser Klimaabkommens erreicht werden sollen, müssten in Deutschland pro Jahr 50.000 Hektar Moor renaturiert werden. Das entspricht in etwa der fünffachen Fläche des Bodensees. Der Anbau einer Paludikultur kann die Chance bieten, Moorschutz, Landwirtschaft und den Bausektor zusammenzubringen und gemeinsam diese klimaschonende und nachhaltige Bewirtschaftung nasser Moore voranzutreiben. 

Der von der Heinrich-Böll-Stiftung gemeinsam mit dem BUND, der Michael Succow-Stiftung und dem Greifswald Moor Centrum veröffentlichte Mooratlas gibt neben den wichtigsten Daten und Fakten zum Moorschutz einen Überblick über die Chancen nasser Moore und der Nutzung von Moor-Biomasse.

Praxisbeispiel: Lanserhof Sylt

In Anlehnung an das Bestandsgebäude wurden alle Neubauten des Hotelkomplexes Lanserhof Sylt mit überhängenden Reetdächern ausgestattet.

Etwa 7.000 m2 Gesamtfläche umfasst das Reetdach des Lanserhof Resorts am Lister Wattenmeer auf Sylt und ist damit zur Zeit der Fertigstellung 2022 das größte Reetdach Europas. Ingenhoven Architects aus Düsseldorf revitalisierten das ehemalige Offiziersheim aus den 1930-iger Jahren in enger Abstimmung mit dem Denkmal- und Naturschutz. Der Bestandsbau galt als Vorbild für alle weiteren Anlagen, die ebenfalls auskragende Reetdächer erhielten. Neben der reduziert-schlichten Architektur sollen ökologische und wohngesunde Materialien sicherstellen, dass Gäste sich wohlfühlen. Zum nachhaltigen Konzept gehören Geothermie sowie die hochwärmegedämmte Gebäudehülle mit 3-Fach-Isolierglas. Der Reet-Dachaufbau ist mit einer 26 cm starken Wärmedämmung versehen, um die Werte der EnEV 2017 einzuhalten.

Praxisbeispiel: Campus Flussbad Berlin

Der unterridische Veranstaltungsraum auf dem Campus Flussbad Berlin verfügt über ein auffällig steiles Reetdach.

In Berlin-Lichtenberg entsteht auf dem Gelände eines ehemaligen Flussbades an der Spree ein besonderes innerstädtisches Architekturprojekt: der Campus Flussbad Berlin mit Ausstellungsräumen, Kreativstudios, Bibliothek, Hotel sowie Restaurant. Auffällig markant ist das steile Reetdach des unterirdischen Veranstaltungsraums. Die Idee stammt von der österreichischen Architektin Monika Gogl. Sie ließ sich dabei von antiken Tempeln und der Leere natürlicher Orte inspirieren.

Ein wesentlicher Aspekt bei Reetdächern ist, vor allem im Hochsommer und bei Trockenheit, der Brandschutz. Dafür gibt es unterschiedliche technische Lösungen. Beim Projekt Flussbad erfolgt der Brandschutz über eine brandhemmende Schicht aus Glasfaser und Steinwolle, die zwischen Dachsparren und Reetdach eingezogen wird. Das soll verhindern, dass die Flammen sich explosionsartig über Hohlräume zwischen Reet und Sparren verbreiten. Der Einbau einer solchen Schicht kann zudem zu einer Reduzierung der Versicherungsprämie führen.

Weiterführende Links

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