THG-Emissionen berechnen, bewerten und beeinflussen – zur Rolle der Ökobilanzierung
Stand: November 2024Professor Thomas Lützkendorf ist einer der führenden Experten für die nachhaltige Entwicklung in der Bau- und Immobilienwirtschaft und hat die Forschung zur Lebenszyklusanalyse maßgeblich mitgeprägt. Im Interview erklärt er, wie die Ökobilanzierung den Weg zur Klimaneutralität im Gebäudebereich unterstützen kann und warum Fachleute auch selbst davon profitieren.
Was ist eigentlich eine Lebenszyklusanalyse?
Den Ansatz einer Lebenszyklusanalyse kann man im erweiterten und engeren Sinne interpretieren. Zunächst wird ein Gebäude in seiner kompletten technischen Lebens- oder wirtschaftlichen Nutzungsdauer zum Objekt der Untersuchung. Dies ist ein Trend, der auch von der Lebenszykluskostenrechnung bekannt ist. Es wird anerkannt, dass heute zu treffende Planungsentscheidungen Langzeitfolgen haben, die bewertet und berücksichtigt werden müssen. Im erweiterten Sinne sind dies die Folgen für Gesellschaft, Umwelt und Wirtschaft. Im Bereich ökologischer Themen sind dies im engeren Sinne Auswirkungen auf die Energie- und Stoffströme sowie die daraus resultierenden Wirkungen auf die Umwelt. Dies wird unter Nutzung der Methode der angewandten Ökobilanzierung untersucht, die auch als life cycle assessment (LCA) – auf Deutsch: Lebenszyklusanalyse – im engeren Sinne bezeichnet wird. Gemeint ist die Erstellung einer Ökobilanz. Es handelt sich um eine Berechnungs- und Bewertungsmethode auf wissenschaftlicher Grundlage. Diese wird sowohl in allgemeinen als auch in anwendungsorientierten Normen beschrieben, darunter DIN EN ISO 14040 und DIN EN 15978.
Welchen Beitrag leistet LCA auf dem Weg zur Klimaneutralität?
Auch hier sollten wir uns zunächst den Begriff näher ansehen. Klimaneutralität ist ein Ziel, das als Anforderungsniveau interpretiert werden kann. Angestrebt wird eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung innerhalb planetarer Grenzen, ohne die natürlichen Lebensgrundlagen zu gefährden. Neben anderen Aspekten wird so das Klima zum Schutzgut und die durch die Treibhausgasemissionen (THG-Emissionen) verursachten Wirkungen auf das Klima zum Bewertungskriterium – auch beim Planen. Inzwischen wird empfohlen, „Klimaneutralität“ als einen Zustand zu interpretieren, bei dem keine THG-Emissionen verursacht oder diese minimiert und mit zulässigen Mitteln ausgeglichen werden. Dafür steht der Begriff der „Netto-Treibhausgasneutralität“. Dieser hat gleich mehrere Vorteile. Er nennt mit den THG-Emissionen die Messgröße und verweist mit „Netto“ auf eine Bilanz.
Damit wird auch das Verhältnis zur LCA klar: Mit der Methode der angewandten Ökobilanzierung sollen die Wirkungen auf das Klima, die durch THG-Emissionen im Lebenszyklus von Gebäuden verursacht werden, so erfasst und bewertet werden, dass sie gezielt im Hinblick auf die Einhaltung der planetaren Grenzen beeinflusst werden können. Letzteres ist nicht Aufgabe der Ökobilanz selbst, sondern von einzuhaltenden Anforderungen und entsprechenden Planungsentscheidungen. Die Ökobilanz ist jedoch das Mittel der Wahl, um die THG-Emissionen zur Ziel-, Planungs- und Nachweisgröße zu machen.
Warum reicht es nicht aus, THG-Emissionen nur in der Nutzungsphase zu betrachten?
Dies lässt sich kurz beantworten. Bei energieeffizienten Neubauten haben die Treibhausgasemissionen der Betriebs- und Nutzungsphase noch einen Anteil von circa 50 Prozent an den Treibhausgasemissionen in einem Betrachtungszeitraum von 50 Jahren. Dieses Ergebnis wird unter anderem von der Datenlage und den Systemgrenzen beeinflusst. Der Anteil gebäudebezogener Emissionen infolge von Herstellung, Errichtung, Erhalt und angenommen Prozessen am Ende des Betrachtungszeitraums – auch bekannt als die grauen Emissionen – steigt derzeit sowohl relativ als auch zum Teil absolut. Auch hier lassen sich Minderungspotenziale erschließen, welche die Umwelt sofort entlasten. Deshalb wird aktuell so intensiv diskutiert, ob und inwieweit Nebenanforderungen zur Begrenzung der „upfront emissions“ und damit der Treibhausgasemissionen infolge der Herstellung und Errichtung von Gebäuden eingeführt werden sollten. Hauptziel ist und bleibt die Begrenzung der THG-Emissionen im Lebenszyklus als Summe aus gebäude- sowie betriebs- und nutzungsbedingten Anteilen.
Wo sehen Sie aktuell das größere THG-Einsparpotenzial: im Neubau oder im Bestand?
Aus meiner Sicht sollten wir hier zwischen individuellen Projekten und der dynamischen Entwicklung des nationalen Gebäudebestands unterscheiden. Neubauprojekte können sämtliche Möglichkeiten der Bauteil- und Gebäudeoptimierung sowie der Minimierung des Energiebedarfs ausschöpfen und dekarbonisierte Produkte und Versorgungsvarianten wählen. Bei Maßnahmen im Bestand ist dies nicht immer im vergleichbaren Umfang gegeben. Großer Vorteil ist hier die Weiternutzung vorhandener Bausubstanz und damit die Erhaltung ihres ökologischen Wertes. Die Weiternutzung von Gebäuden sowie die Wiederverwendung von Bauteilen vermeidet oder verschiebt THG-Emissionen. Letztlich müssen zum Erreichen der Ziele des Klimaschutzes alle Minderungspotenziale bei Neubau- und Modernisierungsmaßnahmen erschlossen werden. Eine Betrachtung des kompletten Bau- und Gebäudebereichs muss dann sicherstellen, dass ein definierter Absenkpfad für THG-Emissionen eingehalten wird. Neubau- und Modernisierungsraten werden hier zur Einflussgröße.
Eine Lebenszyklusanalyse bindet Zeit und Ressourcen. Warum sollte ich sie als Planerin, Architekt oder Energieberaterin trotzdem durchführen?
Sie wird zum unverzichtbaren Planungshilfsmittel. Nur so lassen sich Auswirkungen von Entwurfsentscheidungen erkennen. Übrigens ist die Lebenszyklusanalyse nicht auf die Ermittlung von THG-Emissionen beschränkt. Die Ermittlung weiterer Werte für sonstige Wirkungskategorien unterstützt das Erkennen und Vermeiden von Lastverschiebungen in andere Umweltbereiche. Aktuell lassen sich durch die Ergebnisse einer Ermittlung von THG-Emissionen und die nachweisliche Einhaltung von Anforderungswerten Möglichkeiten der finanziellen Förderung erschließen. Letztlich verbessert die Fähigkeit, planungsbegleitend eine Ökobilanz zu erstellen, die Wettbewerbsposition der Büros.
Welche Tools erleichtern die Berechnung?
Den Vertreterinnen und Vertretern planender Berufe stehen gleich mehrere Hilfsmittel zur Verfügung. Diese reichen von publizierten Fallbeispielen über veröffentliche Bauteilkataloge bis hin zu qualitätsgeprüfter Software unterschiedlichen Komplexitätsgrades. Oft sind die Programme bereits mit der vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt und Raumforschung (BBSR) zur Verfügung gestellten Datenbank ÖKOBAUDAT verknüpft, manche können gleichzeitig die Bau- und Nutzungskosten ermitteln. Die Praxis wird durch die Bereitstellung weiterer Daten unterstützt, darunter die vom BBSR veröffentliche Tabelle der Nutzungsdauern von Bauteilen, die VDI 2067 und weitere Quellen für Werte, die zur Abschätzung von Erneuerungszyklen benötigt werden. Der zielgerichtete Einsatz derartiger Hilfsmittel in der Planung setzt jedoch ein Grundverständnis nicht nur der methodischen Grundlagen, sondern auch der Einflussmöglichkeiten in der Planung voraus. Es existieren diverse Angebote für die Weiterbildung in diesem Bereich. Bei einer Neueinstellung sollte in Erfahrung gebracht werden, ob und inwieweit Themen der Ökobilanzierung im Studium beziehungsweise in der Weiterbildung bereits eine Rolle spielten.
Welche gesetzlichen Vorgaben gibt es bereits und was wird in den kommenden Jahren auf uns zukommen?
In Deutschland ist die Begrenzung des Aufwands an nicht erneuerbarer Primärenergie im Betrieb Gegenstand des Ordnungsrechts. Das Gebäudeenergiegesetz (GEG) liefert die Grundlage. Im Energieausweis werden bereits die energiebedingten THG-Emissionen angegeben, das GEG liefert hierfür die Emissionsfaktoren. Anforderungen zur Begrenzung der THG-Emissionen im Lebenszyklus haben eine lange Tradition und sind in den in Deutschland im Einsatz befindlichen Nachhaltigkeitsbewertungssystemen enthalten. Für Förderprogramme wie Klimafreundlicher Neubau (KFN) und Klimafreundlicher Neubau im Niedrigpreissegment (KNN) ist die Einhaltung entsprechender Anforderungen eine Voraussetzung. In Deutschland sind Ansätze in Förderprogrammen häufig ein Testfall für Überlegungen zum Ordnungsrecht. Ich bin überzeugt, dass es dazu kommen wird. Dafür müssen wir nicht nur bei unseren Nachbarländern nach Beispielen suchen, die es übrigens längst gibt. Es ist eine Aufgabe des Staates, die natürlichen Lebensgrundlagen zu sichern und das Klima zu schützen. Dazu gehört auch die Begrenzung der THG-Emissionen im Lebenszyklus von Gebäuden. Die Europäische Gebäuderichtlinie (EPBD) setzt hierfür bereits den Rahmen. Die Ermittlung und Angabe der THG-Emissionen im Lebenszyklus wird zur Pflicht, allgemeingültige Rechenregeln sind in Vorbereitung und als delegierter Rechtsakt angekündigt. Letztlich sind dies Mindestanforderungen. Es ist Aufgabe und Verantwortung aller am Bau Beteiligten, ab sofort noch stärker zum Schutz des Klimas beizutragen und dies mit den Mitteln des nachhaltigen Bauens zu erreichen.
Über Prof. Thomas Lützkendorf
Prof. i.R. Dr.-Ing. habil. Thomas Lützkendorf war Leiter des Lehrstuhls für Ökonomie und Ökologie des Wohnungsbaus am Karlsruher Institut für Technologie. Bereits in seiner Promotionsschrift aus dem Jahr 1984 befasste er sich mit wesentlichen Fragen rund um das Thema graue Energie. Heute setzt er sich in verschiedenen Gremien für eine nachhaltige Entwicklung im Bauwesen ein: Als Obmann beim DIN koordiniert er etwa die Beiträge zur internationalen und europäischen Normung im Bereich des nachhaltigen Bauens. Darüber hinaus war und ist er an der Weiterentwicklung von verschiedenen Nachhaltigkeitsbewertungssystemen in Deutschland beteiligt und engagiert sich in der internationalen Initiative „Buildings Breaktrough“.