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„Was wir schaffen müssen, ist so groß wie die erste Mondlandung“

Stand: Juni 2024
Foto, Prof. Dr.-Ing. Manfred Curbach, TU Dresden

Klimaneutrales Bauen und Sanieren braucht neue Lösungen, und zwar schnell. Diese sollen künftig in dem neuen Großforschungszentrum Living Art of Building – kurz LAB – in Bautzen entwickelt werden. Rund 1.250 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt werden hier nicht weniger versuchen, als die Zukunft des Bauens von Grund auf neu zu denken. Ein Gespräch mit dem Ideengeber Prof. Dr.-Ing. Manfred Curbach.

Wie werden wir im Jahr 2045 bauen?

Das lässt sich heute kaum abschätzen. Fest steht aber: Wenn wir in den nächsten 20 Jahren so wenige Fortschritte machen wie in den letzten, werden wir genauso weiterbauen wie bisher. Seit den 1990er Jahren hat sich im Grunde kaum etwas getan. Die Effizienz beim Bauen hat sich um gerade Mal sieben Prozent gesteigert. Wirkliche Innovationen einschließlich umfangreicher Umsetzung? Fehlanzeige! Dabei wissen wir schon lange, dass die Baubranche enorme Auswirkungen auf unser Klima hat. Der Paradigmenwechsel im Bauwesen ist lange überfällig.

Und genau da setzt das LAB an?

Korrekt! Im LAB werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt zusammenarbeiten und gemeinsam – wie unser Name verspricht – eine neue Kunst des Bauens entwerfen. Denn genau das bedeutet es, klimaverträglich und an den Bedürfnissen der Menschen orientiert zu bauen: Es ist wahrlich eine Kunst! Und dafür brauchen wir die hellsten Köpfe. Wir kooperieren mit internationalen Top-Universitäten, darunter das MIT, Harvard, Princeton oder die United Nations University. Ein US-amerikanischer Kollege hat kürzlich zu mir gesagt: „It takes a moon shot like LAB to solve the problems of our earth.“ Dem kann ich nur zustimmen. Es bedeutet erstens: Ohne einen Ort wie das LAB werden wir es nicht schaffen. Zweitens: Die Größe dessen, was wir hier anstreben, ist vergleichbar mit dem ersten Flug zum Mond. Und drittens: Es ist machbar.

Inwiefern?

Ein Forschungszentrum, das sich ausschließlich dem Thema Bauen verschreibt, ist in sich schon eine echte Revolution. Die Forschung im Bauwesen ist geradezu marginal. Um eine Zahl zu nennen: Der Anteil an der Gesamtforschung beträgt sage und schreibe 0,3 Prozent. Übersetzt bedeutet das: Wir haben in Deutschland nur rund 20 Fakultäten, die sich mit dem Thema befassen. Zugleich brauchen wir dutzende, ja hunderte innovative Ideen für eine Wende des Bauens. Und wie sollen wir die entwickeln, wenn wir nicht endlich in die Wissenschaft investieren?

An was für Ideen denken Sie da?

Wir werden im LAB künftig viel Energie in die Forschung an Baustoffen stecken. Unser Ziel ist es, mit Materialien zu bauen, die der Luft CO2 entziehen und langfristig speichern. Je mehr ich also damit baue, desto besser! Denn: Wir werden bis 2060 zwei Milliarden Menschen mehr auf der Erde haben. Auch sie brauchen Häuser und Wohnungen. Wenn wir keine angemessene – auch globale – Lösung finden, werden wir künftig noch ganz andere Migrationsbewegungen erleben. Dann geht es darum, mit Digitalisierung und KI neue Produktionsweisen zu entwickeln. Denken wir etwa an die Baustelle der Zukunft: Da werden Roboter und Menschen mit Exoskeletten ganz zentrale Aufgaben übernehmen. Der ganze Prozess wird viel effizienter sein und auch der Beruf wird attraktiver werden. Stellen Sie sich das mal vor: Sie können den Bauprozess vom iPad aus managen. Das klingt nach Science Fiction, ist es aber nicht!

Welche Innovationen hat es im Bereich Baustoffe bereits gegeben?

Wir haben bereits den ersten Beton, für den kein Gramm CO2 freigesetzt wurde. Zudem arbeiten wir seit Jahren an der Entwicklung von sogenanntem Carbonbeton. Das funktioniert in etwa so: Der normale Stahlbeton setzt hohe pH-Werte voraus, um einer Korrosion des enthaltenen Stahls vorzubeugen. Dafür muss Zement viel Klinker enthalten. Für dessen Herstellung sind aber wiederum sehr CO2-intensive chemische Prozesse notwendig. Wenn ich den Stahl nun durch Carbon ersetze, habe ich dieses Problem nicht. Ich kann die Betonmenge gleich um 50 Prozent reduzieren und ganz andere Bindemittel verwenden. Gerade haben wir erste Fasern aus Carbon entwickelt, die aus dem CO2 der Luft hergestellt werden. In Zusammenarbeit mit einem Chemiker züchten wir Blaualgen, die sich von CO2 ernähren und Polyacrylnitril ausscheiden – den Rohstoff, aus dem Carbonfasern hergestellt werden.  

Bauforschung mit einem Chemiker – das klingt untypisch. Wie ist es dazu gekommen?

Ich bin persönlich vielseitig interessiert und habe mir über die Jahre ein breites Netzwerk aufgebaut. Ich bin überzeugt, dass echter Fortschritt nur an den Schnittstellen verschiedener Wissenschaftsdisziplinen entsteht – das haben wir in der Vergangenheit immer wieder bewiesen. Deswegen werden auch im LAB nicht nur Bauingenieurinnen und Bauingenieure arbeiten. Mindestens genauso brauchen wir Expertinnen und Experten aus Nanotechnik, Medizin, Informatik oder Stadtplanung – aber auch aus den Sozial- und Geisteswissenschaften. Denn es gilt auch gesellschaftliche Fragen zu beantworten: Wie wollen wir morgen eigentlich wohnen? Und ist der Einsatz dieser neuen Materialien überhaupt sozial kompatibel?

Stichwort Kooperation: Arbeiten Sie auch mit Unternehmen der Branche zusammen?

Natürlich! Ohne sie wird es auf keinen Fall gehen. Wir haben bereits vier der fünf wichtigsten Bauunternehmen in Europa sowie zahlreiche Mittelständler mit an Bord. Darunter übrigens auch die so oft verteufelte Zementindustrie. Die meisten Firmen wissen inzwischen, dass sie umdenken müssen. Und wer klug wirtschaftet, macht sich bereits heute auf den Weg. Für diese Pioniere ist die Kooperation mit dem LAB enorm attraktiv: Sie können Innovationen aus dem LAB entweder selbst aufnehmen und zur Produktreife führen oder eigene Ideen einbringen und gemeinsam weiterentwickeln. Wenn dann noch die verkürzten Zulassungsverfahren hinzukommen, ist das für sie eine geniale Möglichkeit.

Das müssen Sie erklären.

Momentan sind wir mit dem Deutschen Institut für Bautechnik (DiBT) im Gespräch, um Zulassungsverfahren künftig deutlich schneller voranzubringen. Das direkt vorweg: Die Sicherheit ist ein sehr hohes Gut und unter keinen Umständen sollen da Abstriche gemacht werden. Aber: Wenn wir erst mit dem Verfahren beginnen, wenn ein Produkt fertig entwickelt ist, kostet uns das mindestens drei bis fünf Jahre zusätzlich. Diese Zeit haben wir schlichtweg nicht. Zum Glück hat uns die Coronazeit hier bereits den Weg gewiesen: Als es darum ging, neue Impfstoffe auf den Markt zu bringen, wurde mit einer sogenannten „rolling review“ gearbeitet. Die europäische Arzneimittelbehörde hat damals eigene Leute in die Firmen geschickt, die bei allen Besprechungen dabei waren und die Laborergebnisse mitgeprüft haben. Bereits vier Wochen nach der letzten klinischen Studie konnte die Zulassung erteilt werden! In der Medizin dauert das in der Regel sogar bis zu zehn Jahre. Im LAB sollen also ganz ähnlich Leute vom DiBT danebenstehen und neue Baustoffe bereits in der Entwicklung genauestens prüfen.

Was können andere Akteure aus der Baubranche für eine klimaneutrale Zukunft tun?

Wir werden viel an der Ausbildung verändern müssen, damit neue Materialien und Verfahren korrekt angewandt werden können. Das betrifft auch Menschen, die bereits 20 Jahre lang in der Praxis anders gebaut haben. Jetzt noch mal umzudenken und ganz neue Dinge zu lernen, bringt viele Unsicherheiten mit sich. Das ist völlig verständlich! Wir werden die Mondlandung aber nur dann schaffen, wenn wir alle großen Mut aufbringen – da ist wirklich die ganze Branche gefragt!

Über das LAB Living Art of Building

Der mehrjährige Aufbau des LAB Living Art of Building soll Mitte 2024 in Bautzen beginnen. In rund zehn Jahren sollen insgesamt etwa 1.250 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in weltweit einmaligen Laboreinrichtungen forschen und entwickeln. Damit wäre das LAB das größte Forschungszentrum seiner Art. Durch die enge Zusammenarbeit mit der Industrie werden langfristig bis zu 40.000 Arbeitsplätze in und um das LAB herum entstehen.

Über Prof. Dr.-Ing. Manfred Curbach

Prof. Dr.-Ing. Manfred Curbach ist Bauingenieur, einer der führenden Köpfe hinter der Entwicklung von Carbonbeton und Ideengeber des LAB Living Art of Building. Neben seiner Arbeit in zahlreichen wissenschaftlichen Gremien – darunter etwa die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina – ist er zudem seit 1994 Institutsdirektor und Professor für Massivbau an der Technischen Universität Dresden.

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