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„Wir müssen aufhören zu philosophieren – und endlich umsetzen!“

Stand: Mai 2023
Foto, Torsten Nehls

Torsten Nehls, Projektplaner und Mitbegründer der European Smart + Green Initiative, kann gut und gerne als Vordenker der Berliner Bau- und Immobilienwirtschaft bezeichnet werden. Ein Gespräch über sinnlosen Materialeinsatz, über Trägheit und Angst – und darüber, dass effiziente, nachhaltige Bauprojekte endlich Rückenwind erfahren!

Wie steht es um die Innovationskraft der Baubranche für mehr Klimaschutz?

Leider noch schlecht! Viele Protagonisten der Bau- und Immobilienbranche können oder wollen sich nicht verändern. Die „Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht“-Fraktion in den Unternehmen ist noch immer stark. In anderen Branchen sind wir viel weiter: Wir können heute auf den Mars fliegen, lassen Miniaturroboter Herzklappen minimal invasiv austauschen und plaudern mit KI-gesteuerten Systemen. Aber wenn es darum geht, Innovationen in der Baubranche umzusetzen – vielerorts Fehlanzeige.

Was machen Sie in Ihren Projekten anders?

Es ist alles keine Raketenwissenschaft. Die notwendigen Technologien sind schon da. Wir müssen uns nur trauen, sie anzuwenden. Dabei folgen wir dem Grundprinzip: Effizientes und nachhaltiges Planen muss von Beginn an gedacht werden – also gleich in der Leistungsphase 0. Und effizienter heißt für mich: weniger Material einplanen und nicht benötigtes weglassen. Das sorgt für deutlich höhere Effizienz in allen Bereichen bis hin zu mehr Flexibilität in der späteren Nutzungsphase. Wenn wir heute schon an morgen denken und die Drittverwendbarkeit berücksichtigen, werden Bauten deutlich ressourcenschonender, langlebiger und nachhaltiger. Ein anderes, sehr simples Beispiel: Wenn ich auf Plastikfolien in den Hauswänden verzichte und atmungsaktiv plane, kann ich auf Lüftungssysteme verzichten. Letztlich ist es auch ausschlaggebend, auf effiziente Planungen zu setzen, die seriell genutzt werden können.

Treibt das nicht die Kosten?

Im Gegenteil: Mit umweltverträglichen Materialien und intelligenten Planungskonzepten können künftig ein erheblicher Anteil der Kosten und darüber hinaus 40 bis 80 Prozent der CO2-Emissionen eingespart werden. Eine optimierte Gebäudegeometrie bringt beispielsweise bis zu zehn Prozent mehr Mietfläche – insbesondere durch Weglassen unnötiger Schächte, Einbauten und schlankere, effizientere Wände. So können Sie bei Rohbauten und Infrastrukturvorhaben die Betonmengen um 30 bis 70 Prozent reduzieren. Alle Maßnahmen zusammengenommen sparen außerdem Zeit, Transporte und Materialmengen. Die Bauten werden effizienter, flexibler und spätestens bei Betrachtung der Gesamtkostenrechnung deutlich preiswerter.

Worauf kann noch verzichtet werden?

Gerade im Wohnungsbau auf vielerlei Sensorik und Messtechnik. Haben Sie gewusst, dass Wartung und Ablesung bis zu 40 Prozent der Heizungs- und Warmwasserkosten ausmachen? Das ist doch unglaublich! Unser Lösungsansatz ist, pauschale Mietpreise zu entrichten: Alle zahlen das gleiche – unabhängig vom Verbrauch. Wenn dann im Winter jemand das Fenster ständig auf Kipp lässt, regelt sich das hausintern von selbst…

Wie sieht es mit Low-Tech im Bestand aus?

Altbau ist in der Regel bereits Low-Tech. Damit meine ich alle Häuser, die noch nicht von Produkten der petrochemischen Industrie umhüllt wurden. Es braucht keine aufwändige Technik und riesige Wartung. Selbst bei PV-Modulen nicht: Wenn ich den Taschenrechner von Opa raushole mit der Miniatursolarzelle, funktioniert er heute noch. Und das funktioniert auch im Altbau: Hier haben wir schon die atmungsaktive Gebäudehülle – die auch nur atmungsaktiv gedämmt werden darf – und schon brauchen wir keine kontrollierte Wohnraumbelüftung mehr. Da müssen wir wieder hin. Oft hilft die Rückkehr zu Altbewährtem, kombiniert mit grüner Bautechnologie. Ähnliches gilt übrigens auch in puncto Material: Heute sehen wir zum Beispiel wieder den Nutzen in überholt geglaubten Baustoffen wie Holz, Lehm und Stroh.

Sanieren oder neu bauen: Was ist nachhaltiger?

Ein gut sanierter Bestand ist immer nachhaltiger als ein Neubau. Wichtiges Kriterium ist dabei, dass das Grundstück, auf dem der Bestandsbau steht, vergleichsweise gut ausgenutzt ist und nicht durch Abriss und Neubau wesentlich mehr Fläche geschaffen werden kann. Aufstockungen und Nachverdichtungen sind in bereits gut erschlossenen Gebieten die richtige, wichtige und nachhaltige Option. Wenn ich mehr in die Höhe gehe, können mehr Menschen die bereits vorhandene Erschließung nutzen und im Idealfall unweit von S-Bahnhöfen leben und arbeiten. So wird die bestehende Infrastruktur, die meist noch auf deutlich höhere Bedarfe an Wasser, Energie und Wärme ausgelegt war, wieder besser ausgelastet werden.

Dennoch setzt Ihr Unternehmen auch viele Neubauprojekte um. Was reizt Sie daran?

Sie haben mehr Möglichkeiten und können Projekte und Quartiere von Grund auf nachhaltig planen – und dies bezogen auf alle Dimensionen der Nachhaltigkeit. Soziale Aspekte kann ich ganz anders integrieren. Zum Beispiel fällt es leichter, einen Neubau von Anfang an barrierefrei beziehungsweise rollstuhlgerecht zu planen. Wir bauen gerade das Bärensteinpalais in Berlin-Marzahn. Dort sind 97 Prozent der Wohnungen barrierefrei oder behindertengerecht – anstelle der meist nur 10 Prozent gesetzlich vorgeschriebenen barrierefreien Wohnungen. 

Ein anderes Neubauprojekt, an dem Sie arbeiten, ist das Quartier Gehrenseehöfe in Berlin-Hohenschönhausen.

Bei unserem Projekt NOOAAA – das steht für den Standort in der Nord-Ost City Berlin und den geplanten höchsten Nachhaltigkeitsstandard Triple-A – lautet das Stichwort „3-Minuten-Stadt“. Kita, Grundschule, Ärzte, Arbeits- und Lebensräume sowie Dinge des täglichen Bedarfs sollen fußläufig zu erreichen sein. Bei dem Bau setzen wir insbesondere das Regionalitätsprinzip konsequent um. Es ist unsäglich, wie viele Lkws normalerweise für eine Baustelle quer durch Europa fahren. Wir sparen diese Transportwege größtenteils ein und setzen auf konsequentes Recycling sogar direkt auf der Baustelle.

Wie kann das gelingen?

Bei dem Projekt müssen wir – leider – die ineffizienten, gewerblichen Bestandsgebäude mit abreißen. Sie sind für das neue urbane Gebiet unbrauchbar. Anstatt das Material mit Hunderten Lkw-Ladungen zur Deponie zu bringen, schreddern wir die alten Gebäudeteile, verbauen sie als Betonzuschlagstoff und sparen dabei sogar noch Zement. Den Sand, den wir für Tiefgaragen ausheben, nutzen wir ebenfalls für den Beton. Wenn ich daran denke, dass für eines der höchsten Gebäude der Welt in Dubai Kies aus dem Zürichsee und Sand aus Australien um die halbe Welt geschippert wurden, macht mich das einfach sprachlos!

Was hält Investierende und Planende davon ab, nachhaltigere Projekte umzusetzen?

Trägheit, Angst und fehlende Anreize. Die DIN-Normen blockieren da ganz massiv. Man muss sich trauen, neue Sachen auszutesten und außerhalb der Normen des letzten Jahrhunderts zu denken. Aber solches Denken wird heute in der Regel noch gerügt. Es braucht positive Anreize aus Wissenschaft und Wirtschaft. Wir müssen die Leute ermutigen! Und es braucht noch viel mehr Impulse aus der Politik. Ein positives Beispiel ist die EU-Taxonomie. Nachhaltigkeit wird endlich ernst genommen und verbindlich eingefordert. Das trägt sicher dazu bei, dass unsere Projekte inzwischen viel positiver gesehen werden und zeigt, dass rechtliche Vorgaben Menschen zum Nachdenken anregen. Die EU-Taxonomie bewirkt jetzt einen längst überfälligen Sinneswandel – auch bei Entscheidern.

Ist das auch die Zielsetzung Ihrer European Green + Smart Initiative (ESGI)?

Auf jeden Fall. Wir wollen damit Akteuren der Bau- und Immobilienwirtschaft eine internationale Plattform zum Thema Nachhaltigkeit bieten. Es geht darum, Wissen weiterzugeben und zu vernetzen – so wie es auch Sie als Gebäudeforum klimaneutral auf nationaler Ebene machen. Hier entsteht konkrete Zusammenarbeit für Projekte, die heute im Kleinen und in der Zukunft in Serie gebaut werden. Nicht erst seit dem neuen IPCC-Bericht ist klar: Wir müssen aufhören zu philosophieren und anfangen umzusetzen.

Sie planen mit ESGI auch ein neues Zertifizierungssystem. Warum?

Wir setzen einige Schritte früher als andere Systeme an und prüfen: Wo kommt das Material her und wie wurde es produziert? Das macht das klassische Zertifizierungssystem nicht. Und wir beachten Social- und Governance-Kriterien. Wenn jemand dann nur das gesetzliche Minimum umsetzt, wird das nicht honoriert. Aber wer ein intensives Gründach macht, mit aufgeständerten PV-Anlagen und dazu noch eine Wildblumenwiese als Lebensraum für alles, was fliegt und kreucht, bekommt Extrapunkte. Hier gibt es unendlich viele Möglichkeiten, auf die bis jetzt noch nicht geschaut wird. Es muss ganzheitlicher gedacht werden.

Was muss in der Baubranche weiter passieren?

Gerade diskutieren wir vordergründig über Wärmepumpen – das ist auch wichtig. Wir dürfen aber nicht nur an Energieeffizienz denken, sondern insbesondere an nachhaltiges Leben, eine nachhaltige Infrastruktur, dezentrale Gewinnung erneuerbarer Energie. Und vor allem muss regional und ressourcenschonend gedacht, geplant und gebaut werden. Wir müssen neue Technologien fördern, uns trauen diese anzuwenden, anstatt Erfinder, Mittelstand und Wirtschaft ständig zu begrenzen. Über allem steht, dass wir viel schneller in die Umsetzung kommen.

Über Torsten Nehls

Torsten Nehls ist geschäftsführender Gesellschafter des Immobilien- und Projektentwicklungsunternehmens Belle Époque Gruppe. Im Jahr 2020 gründete er die Firmenfamilie Smart & Green, 2022 initiierte und veranstaltete er erstmalig die BIGG-Change-Conference und ist Mitbegründer der europäische Genossenschaft European Smart + Green Initiative, kurz ESGI.

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