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Zirkuläres Bauen: Recycling reicht nicht

Stand: September 2025
Foto, Prof. Dr.-Ing. Philipp Dietsch

Fenster, Stahlträger, Dachstühle – vieles, was beim Abriss im Container landet, könnte noch jahrzehntelang genutzt werden. Dennoch rückt die Wiederverwendung erst langsam ins Bewusstsein der Bauwirtschaft. Ein neuer Leitfaden zeigt, wie tragende Bauteile aus Holz und Stahl künftig ein zweites Leben erhalten können. 

Erstautor Prof. Dr.-Ing. Philipp Dietsch spricht über ungenutzte Potenziale, wachsende Märkte und die wichtigsten Voraussetzungen.

Warum ist Wiederverwendung so wichtig?

Rund 40 Prozent des weltweiten CO2-Verbrauchs und mehr als die Hälfte des Abfalls gehen auf das Konto der Baubranche. Wer den Klimawandel ernsthaft bremsen will, muss hier grundlegend umdenken. Die gute Nachricht: Zirkuläres Bauen rückt immer stärker ins Bewusstsein. Allerdings liegt der Schwerpunkt häufig noch auf dem Recycling. Das ist zwar besser als verbrennen oder deponieren, verbraucht aber weiterhin große Mengen Energie. Schließlich müssen die Materialien geschreddert oder eingeschmolzen werden. Wiederverwendung geht einen Schritt weiter. Das Bauteil bleibt intakt und wird in einem anderen Gebäude erneut eingesetzt. Der Materialwert, die verbaute Energie und oft auch handwerkliche Qualität bleiben weitestgehend erhalten.

In Ihrer Studie stehen tragende Bauteile aus Holz und Stahl im Fokus. Warum?

Weil hier enormes Potenzial schlummert, wir aber praktisch noch am Anfang stehen. Tragende Bauteile machen je nach Material und Bauweise bis zu 70 Prozent der gesamten Masse eines Gebäudes aus. Ihre Wiederverwendung ist allerdings deutlich komplexer als bei Fenstern, Türen oder Waschbecken. Ein Fenster kann ich relativ leicht ausbauen. Eine tragende Wand hingegen muss sorgfältig aus der Gebäudestruktur herausgelöst werden. Bei Holz- und Stahlkonstruktionen treffe ich bereits heute häufiger auf lösbare Verbindungen, man denke an Schrauben oder Bolzen. Schweißnähte oder Verklebungen erschweren den zerstörungsfreien Rückbau. Anspruchsvoller wird es bei Beton. Eine tragende Betonwand lässt sich oft nur herausschneiden – das ist aufwendiger und selten zerstörungsfrei.

Was ist der erste Schritt?

Zunächst muss klar sein, wo sich eine Wiederverwendung überhaupt lohnt. In der Regel eignet sich nicht das ganze Gebäude, sondern bestimmte Teile, zum Beispiel der Dachstuhl oder einzelne Stahlträger. Dieser Schritt muss erfolgen, bevor das Gebäude rückgebaut wird. Eine bewährte Grundlage bietet die klassische Bestandsanalyse. Dabei prüfen Fachleute, ob und wie lange ein Gebäude noch sicher genutzt werden kann – ähnlich wie der TÜV beim Auto. Bauteile und Materialien werden auf Schäden oder Verschlechterungen überprüft. An diese Methodik kann ich mich anlehnen, um Bauteile für eine Zweitnutzung zu identifizieren.

Worauf muss ich beim Rückbau achten?

Beim Rückbau zählt vor allem ein behutsames Vorgehen. Abrissunternehmen waren bislang darauf spezialisiert, ein Gebäude möglichst schnell abzureißen. Wenn ich einzelne Bauteile wiederverwenden möchte, muss ich viel vorsichtiger vorgehen. Ich brauche ganz andere Werkzeuge – da kann ich nicht mit der Abrissbirne anrücken. Deswegen muss schon vor Beginn des Rückbaus feststehen, welche Bauteile erhalten bleiben sollen. In manchen Fällen kann es sinnvoll sein, andere Fachleute zu beauftragen. Soll etwa ein Dachstuhl aus Holz rückgebaut und weiterverwendet werden, ist möglicherweise eine Zimmerei die bessere Wahl. Sie hat in der Regel das Know-how, die Konstruktion fachgerecht zu demontieren, ohne sie zu beschädigen.

Gibt es bereits einen Markt für gebrauchte Bauteile?

Ja – und er wächst. Es gibt etablierte Baustoffbörsen wie Concular oder restado, die Bauteile online vermitteln. Auch auf Kleinanzeigen-Plattformen werden gebrauchte Bauteile gehandelt. Zudem entwickeln immer mehr Städte sogenannte Sekundär-Rohstoff-Zentren. Dort werden ausgebaute Bauteile zwischengelagert und anschließend für eine zweite Nutzung weiterverkauft. Zu den Vorreitern zählen Berlin, Bremen und Basel – in zunehmender Frequenz kommen neue Standorte hinzu.

Wie funktioniert die Qualitätsprüfung nach dem Rückbau?

Ganz gleich, ob Holz oder Stahl, jedes Bauteil muss vor der Wiederverwendung reklassifiziert, also einer bestimmten Güteklasse zugeordnet, werden. Beim Stahl ist entscheidend, wann er hergestellt wurde und wie viele Informationen über das Bauwerk vorliegen. Hintergrund: Die Produktionsweise von Stahl hat sich über das letzte Jahrhundert stark verändert. Bei Holz wiederum erfolgt eine visuelle Sortierung, teilweise unterstützt von zerstörungsfreien Prüfungen. Fachleute, aber auch maschinelle Scanner prüfen dabei, ob Schwachstellen wie Äste in den Brettern oder Bohlen vorliegen.

Und last but not least: Wie werden die Bauteile wiederaufbereitet?

Bevor die Bauteile wieder verbaut werden, müssen sie selbstverständlich alle notwendigen Sicherheitsanforderungen erfüllen. Das kann bei Holzbauteilen bedeuten, größere Löcher oder Kerben auszubessern. Zudem müssen vorhandene Schadstoffe entfernt werden. Bei Stahl ist am wichtigsten, bestehende Anstriche oder Beschichtungen zu entfernen und den Korrosionsschutz, also die Verzinkung, auf Beschädigungen zu prüfen.

Was ist für die Wiederverwendung tragender Bauteile aktuell das größte Hemmnis?

Die Rechtslage. Wird ein Bauteil rückgebaut, ohne dass die konkrete zweite Nutzung bereits feststeht, gilt es juristisch als Abfall – und fällt unter das Abfallrecht. Damit ist eine Zertifizierung für eine zweite Nutzung deutlich erschwert. Andere Branchen sind hier schon weiter. In der Automobilbranche beispielsweise gibt es einen gut etablierten Markt für gebrauchte PKW-Teile. Hinzu kommen offene Haftungsfragen: Der ursprüngliche Hersteller haftet nicht mehr, und wenn der Verkäufer keine Gewährleistung übernimmt, steigt das Risiko für den Bauherrn. Hier braucht es rechtlich abgesicherte Modelle.

Gibt es Vorzeigeprojekte?

Ja. Ein Beispiel von vielen: Die Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte Wohnstadt (NHW) hat bei der Aufstockung zweier Gebäude in Kelsterbach bei Frankfurt rund 50 Prozent der Materialien aus eigenen Bauprojekten wiederverwendet – darunter ehemalige Dachsparren für Holzrahmenbauwände, Fenster und Balkonverkleidungen. Der Vorteil hier: Die Bauteile blieben im eigenen Besitz, was rechtlich einiges erleichtert.

Was hat Sie an den Studienergebnissen am meisten überrascht?

Dass so viele Grundlagen schon vorhanden sind. Fachleute, die Bestandsanalysen durchführen, könnten auch Bauteile reklassifizieren. Für einen behutsamen Rückbau können wir notfalls auf die Unternehmen zurückgreifen, die solche Bauteile eingebaut haben. Natürlich braucht es Ergänzungen – etwa schnellere Prüfverfahren für Schadstoffe oder spezielle Weiterbildungen für Abrissunternehmen. Aber wir müssen das Rad nicht neu erfinden, wir müssen nur ein wenig umdenken.

Was muss passieren, um die Wiederverwendung in die Breite zu bringen?

Die Pioniere, die heute schon Gebäude mit wiederverwendeten Bauteilen errichten, brauchen gezielte Förderung. Die KfW-Förderung etwa berücksichtigt bislang keine wiederverwendeten Bauteile – das sollte sich ändern. Und: Wir müssen unsere Gebäude so planen, dass sie auch leicht und sortenrein wieder rückzubauen sind. Modulare Bauweisen etwa, die weitestgehend auf Verklebungen oder Verschweißungen verzichten, ermöglichen genau das. So kann aus den gleichen Modulen heute ein schönes Bürogebäude entstehen, ein paar Jahrzehnte später vielleicht ein Mehrfamilienhaus!

Über Prof. Dr.-Ing. Philipp Dietsch

Prof. Dr.-Ing. Philipp Dietsch ist Bauingenieur und Universitätsprofessur für Holzbau und Baukonstruktion am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Er ist zudem Erstautor des Leitfadens „Wiederverwendung tragender Bauteile“, der im Auftrag des Ministeriums für Landesentwicklung und Wohnen Baden-Württemberg erstellt wurde. Der Leitfaden bietet Fachleuten einen Überblick zu den technischen Grundlagen der Wiederverwendung von tragenden Bauteilen aus Holz und Stahl. Dabei wird die Vorgehensweise von der ersten Bestandsaufnahme über den Rückbau bis hin zur Wiederaufbereitung praxisnah erläutert.

Download des Leitfadens sowie des zugrundeliegenden Forschungsberichts

  • Leitfäden

    Leitfaden zur Wiederverwendung tragender Bauteile

    Der Leitfaden gibt Antworten auf technische Fragen zur Wiederverwendung gebrauchter Holz- und Stahlbauteile und bietet eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Untersuchung. Damit zeigt er einen technisch sauberen und sicheren Weg zur Wiederverwendung auf.

    Stand: Mai 2025

    PDF 2 MB

  • Studien & Berichte

    Vorbereitung der Wiederverwendung von bestimmten Bauprodukten des Holz- und Stahlbaus

    Der Bericht behandelt die technische Seite der Wiederverwendung von tragenden Bauteilen. Dargestellt werden Inhalte und Vorgehensweise der Bestandsanalyse von verbauten Holz- und Stahlbauteilen sowie die wichtigsten Aspekte eines schonenden Rückbaus.

    Stand: Dezember 2024

    PDF 63 MB

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