Projekt
Im Wohnungsbestand „Kopernikusstraße“ in Aschersleben (Sachsen-Anhalt) hat die Ascherslebener Gebäude- und Wohnungsgesellschaft mbH (AGW) einen Plattenbau aus den 1970er Jahren umfassend saniert – nicht abrissbedingt, sondern als bewusster Beitrag zur Bestandserhaltung und zur Dekarbonisierung des Wohnungsbaus.
In enger Zusammenarbeit mit dem Autarkie-Team um Prof. Timo Leukefeld entstand ein deutschlandweit einmaliges Pilotprojekt: ein hochenergieautarkes Wohngebäude, das konsequent auf eine CO₂-freie Energieversorgung, kreislauffähige Baustoffe und ein Low-Tech-Nutzungskonzept setzt.
Die einst vermietungsschwachen Gebäude wurden grundlegend mit dem Ziel ertüchtigt, sie langfristig als attraktiven, zukunftsfähigen Wohnraum zu erhalten. Entstanden ist ein Sanierungsansatz, der die Vorteile serieller Sanierung, suffizienter Gebäudetechnik und materialökonomischer Planung vereint.
Gebäudetyp
Plattenbau: 60 WE, Baujahr 1970er Jahre
Bauzeit
• Kopernikusstraße 10–14: 2021–05/2023
• Kopernikusstraße 4–8: 05/2023–10/2024
• Keplerstraße: 10/2024–voraussichtlich 12/2025 (Abschnitt 1), Q1/2026 (Abschnitt 2)
Baukosten
ca. 3.100 €/m² für LP 2–7 (20 % Förderreduzierung durch KfW 2022)
- Baustoffe
- Energieeffizienz
- Sanierung
- Wohngebäude
- Zirkuläres Bauen
Bautafel:
Energetischer Zustand
• Vorher: Energieklasse D, 111 kWh/(m²*a)
• Nachher: Energieklasse A+, 10,5 kWh/(m²*a)
Gebäudetechnik
• Infrarotheizung an der Decke
• Dezentrale Warmwasserbereitung per Autarkieboiler
• Wohnraumlüftung mit Filterung
• Stromversorgung: 60 % vor Ort (PV), 40 % Grünstrom aus der Strombörse
Fassaden/Dächer
• Teilweise WDVS, teilweise Holz, Holzkomposit und Blech
• Dachdämmung mit einblasbaren Holzbaustoffen
• Dachabdichtung durch PV-Module als wasserführende Ebene
Zielwerte Kreislaufwirtschaft
• Materialpass wird erstellt
• Rückführung der Baustoffe nach Nutzungszeit möglich
• Ziel: bilanzieller Rohstoffwert im Unternehmensvermögen
Herausforderungen


Die zentrale Herausforderung bestand darin, ein energieautarkes Gebäudekonzept nicht im Neubau, sondern im Bestand unter maximaler Nutzung vorhandener Gebäudestruktur umzusetzen. Bei dem Objekt handelt es um einem 50 Jahre alten Plattenbau. Bislang galten solche Konzepte ausschließlich für Neubauten als realisierbar. In Aschersleben wurde dieses Paradigma gezielt hinterfragt. Gleichzeitig erforderte die Umsetzung eine grundlegende Revision bereits fertiger Sanierungspläne.
Technisch stellte insbesondere die Leistungsfähigkeit der Infrarotheizung eine Unsicherheitsgröße dar. Kritisch diskutiert wurde, ob sie bei realistischer Wohnnutzung den Bedarf decken kann, ohne die Stromverbrauchsgrenzen zu überschreiten. Auch die Praxistauglichkeit kreislauffähiger Baustoffe wurde zunächst kritisch betrachtet, da deren Verfügbarkeit, Verbauung und Zertifizierbarkeit intensive Recherche und neue Wege in der Ausschreibung und Handwerkerqualifikation erforderte.
Neben diesen konzeptionellen Hürden bestand ein zentrales Ziel darin, die Bestandsbauten langfristig als lebendiges, familienfreundliches Quartier zu sichern. Mit gesundem Wohnraum, geringen Betriebskosten und einer Architektur, die sich harmonisch in das gewachsene Umfeld einfügt. Dabei wurde der Anspruch verfolgt, eine energetische, technologische und soziale Antwort auf Wohnungsmarktengpässe, Handwerkermangel und Klimaschutzziele zu geben.
Ziele & Erfolge
Die Umsetzung des Projekts erforderte eine komplette Neujustierung klassischer Sanierungslogiken. Im Mittelpunkt stand ein Low-Tech-Konzept mit maximaler Energieautarkie bei gleichzeitig minimalem technischem Aufwand im Betrieb. Das Gebäude deckt rund 60 % seines Strombedarfs durch eine dachintegrierte Photovoltaikanlage, die zugleich als wasserführende Dachhaut fungiert. Die restlichen 40 % werden über einen dynamischen, rein grünen Stromtarif von der Börse zugekauft. So entsteht ein CO₂-freier Betrieb ohne fossile Energieträger, ohne klassische Heizanlage. Ein zentrales Element ist die Enttechnisierung der Heiz- und Warmwasserbereitung. Statt wassergeführter Systeme kommen an der Decke montierte Infrarotheizungen zum Einsatz, die eine gleichmäßige Strahlungswärme erzeugen und wartungsarm sind. Die Warmwasserbereitung erfolgt dezentral über sogenannte Autarkieboiler in jeder Wohnung. Diese Technologie vermeidet zentrale Technikräume, reduziert Leitungsverluste und steigert die Energieeffizienz im Betrieb. Für die Frischluftversorgung sorgt eine kompakte, dezentrale Lüftungseinheit mit Filterung. Die Wohnungen müssen nicht manuell gelüftet werden, was Wärmeverluste minimiert und das Raumklima stabil hält.
Das Projekt setzt bewusst auf einfache, robuste Systeme und verzichtet auf konventionelle, wartungsintensive Haustechnik. Hintergrund ist die kontinuierliche Kostensteigerung bei Service- und Handwerkerleistungen. Für die Wohnungswirtschaft bedeutet dies, intelligente Planungsansätze und eine enttechnisierte Realisierung einzusetzen, um den laufenden Aufwand zu reduzieren und die Nebenkosten für die Mieter langfristig bezahlbar zu halten.
Die Fassaden wurden in Mischbauweise ausgeführt: klassische WDVS-Systeme mit niedriger CO₂-Bilanz, ergänzt durch Holzkompositwerkstoffe, Blechfassaden und unbehandelte Holzschalungen. Die Dachflächen sind mit einblasbaren Holzfaserdämmstoffen gedämmt, die sortenrein rückgewinnbar sind. Die PV-Module dienen als wetterfeste Außenhaut. Klebstoffe wurden weitgehend vermieden. Ein digitaler Gebäuderessourcenpass wird projektspezifisch entwickelt.
Die Sanierung erfolgte im bewohnten Bestand mit dem Ziel, keine zusätzliche Fläche zu versiegeln. Der Wohnraum wurde erhalten, die Grundrisse funktional optimiert, die Wohnungen auf zeitgemäßen Standard gebracht. Die Außenanlagen wurden unter Gesichtspunkten der Biodiversität neu gestaltet und begrünt. Nach Sanierung liegt der Endenergieverbrauch bei nur noch 10,5 kWh/(m²*a) gegenüber vormals 111 kWh/(m²*a). Die Energieklasse verbesserte sich von D auf A+. Der CO₂-Ausstoß im Betrieb liegt bei null. Das Mietmodell mit Energieflatrate wurde am Markt gut angenommen: Wartelisten bestätigen die Nachfrage.

Lessons learned
Das Projekt in Aschersleben zeigt, dass energetische Autarkie, Low-Tech-Strategien und zirkuläres Bauen nicht nur im Neubau, sondern auch im Bestand möglich sind, selbst bei industriell errichteten Plattenbauten aus den 1970er Jahren. Ein zentraler Erfolgsfaktor war der Mut zur Konzeptänderung: Die Bereitschaft, bewilligungsreife Pläne noch einmal grundlegend zu überarbeiten, ermöglichte ein innovatives, zukunftsweisendes Ergebnis. Die frühe und konsequente Einbindung von Forschung, Planung, Baupraxis und Wohnungswirtschaft war dabei entscheidend.
kWh/(m²*a)
Der energetische Zustand konnte von diesem Ausgangswert der Energieklasse D nach der Sanierung in die Energieklasse A+ angehoben werden: Mit einem neuen Wert von 10,5 kWh/(m²*a).
Wohneinheiten
Die Sanierung eines Gebäudes betrifft 60 Wohneinheiten und macht hochenergieautarkes Wohnen somit für viele Mieterinnen und Mieter erlebbar.
Prozent des Stroms vor Ort gewonnen
60 % des benötigten Stroms kann dank PV-Anlagen vor Ort gewonnen werden.
Besonders hervorzuheben ist die konsequente Orientierung an kreislauffähigen Materialien: Die Dokumentation über einen Gebäuderessourcenpass eröffnet nicht nur ökologisches, sondern auch bilanzielles Potenzial. Das ist ein Aspekt, der künftig auch für institutionelle Investoren von Bedeutung sein dürfte. Das Modellprojekt liefert eine übertragbare Blaupause für Wohnungsunternehmen, die vor der Entscheidung stehen, unsanierte Bestände entweder abzureißen oder neu zu konzipieren. Es zeigt: Nachhaltigkeit muss nicht technologisch überfrachtet, teuer oder kompliziert sein. Im Gegenteil: die Kombination aus Suffizienz und baulicher Robustheit kann zur Grundlage einer neuen Sanierungsstrategie werden.